Kassai: "In Österreich bewegt sich etwas"

Teil eins des ausführlichen Saison-Interviews mit Viktor Kassai

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Als Technical Director ist Viktor Kassai für die Bereiche Fitness, Regelwerk, Schulungen und Besetzung im Elite-Bereich des ÖFB-Schiedsrichterwesens zuständig.

Im ersten Teil des ausführlichen Interviews spricht er über sein erstes Jahr in Österreich, sein Fazit der Saison 2023/24 auf nationaler wie internationaler Ebene und den VAR. 

Wie war dein erstes Jahr beim ÖFB und wie gefällt es dir in Österreich?
Kassai: Ein neuer Job ist immer mit Erwartungen, aber auch mit Unsicherheiten verbunden. Unsere Kolleg:innen im Referee Department haben György Ring, unserem VAR-Manager, und mir den Start sehr erleichtert. Wir haben in den dreieinhalb Jahren vor dem ÖFB-Engagement in zwei verschiedenen Ländern gearbeitet und wissen um die Herausforderungen vor allem im ersten halben Jahr. 
Man kann das mit einem Lernprozess vergleichen. Zu Beginn lernst du die Kolleg:innen und die Strukturen kennen, im nächsten Schritt die einzelnen Elite Referees und Vereine in der ADMIRAL Bundesliga und der ADMIRAL 2. Liga. Mir macht die Arbeit in Österreich sehr viel Spaß. Ich genieße es, mit so vielen tollen Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten und merke selbst, dass ich hier eine gute Arbeit leisten kann, weil ich mich wohlfühle und sehr gut eingearbeitet bin.

Wir geben uns damit aber nicht zufrieden, denn wir haben im österreichischen Schiedsrichterwesen noch sehr viel zu tun. Die Tätigkeit kann man sich wie einen ‚Never ending process‘ vorstellen. Wenn du ein Ziel erreichst, kommt schon ein neues Ziel, auf das du hinarbeitest. Im Fußball zu arbeiten, bedeutet immer, dass du kein Endziel hast. Wenn du einen Schiedsrichter bei der UEFA EURO 2028 hast, möchtest du, dass beim nächsten Mal zwei Schiedsrichter nominiert werden.

Wie lautet dein Fazit der Saison 2023/24 aus sportlicher Sicht?
Zusammen mit Ali Hofmann, dem Leiter Schiedsrichterwesen, und Günter Benkö, dem Vorsitzenden der ÖFB-Schiedsrichterkommission, haben wir eine ganz klare Linie festgelegt, die wir von Anfang durchsetzen wollten. Das passiert nicht von einem Tag auf den anderen und auch nicht von einer Woche auf die nächste. Wir wussten, dass das ein Prozess ist, dessen Inhalte nach und nach umgesetzt werden. 
Auf Basis von Analysen jeder einzelnen Runde haben wir rasch festgestellt, dass wir einen Fokus auf Schulungen legen müssen, damit unsere Leute uns und unsere Erwartungen besser verstehen. Diese Erwartungen basieren zu 95 Prozent auf jenen der UEFA. Um international eine Rolle zu spielen, wollten wir diese schnellstmöglich in Österreich etablieren. Für mich war es wichtig, dass die Elite Referees lernen, praktisch zu denken. Der Fußball erwartet nicht, rein nach dem Regelwerk zu pfeifen, sondern Situationen in einer praktischen Art und Weise zu interpretieren. Um das zu lernen, braucht man Zeit. 
Nach einem halben Jahr konnte man dann schon feststellen, dass die große Mehrheit auf unseren Zug aufgesprungen ist und sich dorthin entwickelt hat, wo wir sie gerne hätten. Dies hat sich auch statistisch gezeigt, denn im Frühjahr konnten die Fehlentscheidungen bereits reduziert werden. Ich bezeichne dies gerne als die geernteten Früchte von intensiven Schulungsmaßnahmen, welche wiederum die Basis dafür sind, sich ständig zu verbessern.

Ein weiteres Augenmerk wurde auf die Fitness gelegt. Deswegen führen wir in Österreich nur noch UEFA-Fitnesstest durch. Die Elite Referees müssen vier Mal im Jahr das Fitnesslevel von europäischen Top-Schiedsrichtern erreichen, um in den beiden höchsten Spielklassen amtieren zu können. Auch in diesem Bereich sehen wir ein positives Signal der Schiedsrichter und Assistent:innen. Nur, wenn man viel trainiert und eine professionelle Einstellung hat, kann man sein Maximum erreichen. 
Darüber hinaus ist es wichtig, dass das Referee Department mit all seinen Facetten gute Arbeit leistet, damit die gesamte Organisation einen Schritt nach vorne macht. Als Teil des Referee Departments zählen zu meinen Aufgaben sämtliche technischen Dinge. Das heißt: Fitness, Regelwerk, Schulungen und die Besetzung der Schiedsrichter. Jeder Schiedsrichter und jede:r Assistent:in soll die gleichen Möglichkeiten bekommen und nicht von den Kolleg:innen im eigenen Bundesland abhängig sein. Diese Dinge haben wir in unserer ersten Saison geändert und hoffen auf eine Fortführung des positiven Weges im zweiten Jahr. Denn es gibt nie ein Ende, nur neue Ziele.

Wie zufrieden bist du allgemein mit der Entwicklung der Elite Referees?
Ich kann die Entwicklung natürlich nur kurzfristig über eine Saison beurteilen. Was mir dabei gefällt, ist, dass wir von Herbst 2023 bis Frühjahr 2024 eine Verbesserung sehen konnten. Das ist ein sehr positives Signal. Wir dürfen uns aber nie zurücklehnen. Im Winter haben wir zwei neue Schiedsrichter und zwei neue Assistent:innen dazugewonnen. Jetzt im Sommer kommen zwei Schiedsrichter und drei Assistenten hinzu. Sie müssen unseren Rhythmus aufnehmen. Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, diese jungen Talente zu integrieren. 
Ich habe im Rahmen eines FIFA-Lehrgangs gelernt, dass wir mit unseren Elite Referees glücklich, aber nie zufrieden sein dürfen. Wir haben jede Woche sechs Spiele in der ADMIRAL Bundesliga und acht in der ADMIRAL 2. Liga. Wenn zwölf Spiele gut gelaufen sind, aber es in Ried und Lustenau je eine Fehlentscheidung gab, können wir nicht zufrieden sein. Insgesamt haben wir fast 500 Spiele pro Saison. Wenn wir bei lediglich fünf Prozent der Einsätze Probleme haben, gibt es viele Diskussionen, viel Kritik und viele schlaflose Nächte. Glücklicherweise konnten wir unsere Fehlentscheidungen reduzieren, wir sind aber noch lange nicht am Ziel.

Wie stehst du zur VAR-Entwicklung in Österreich?
Man kann klar erkennen: Bevor der Schiedsrichter infrage gestellt wird, hinterfragt der Fan den VAR. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der VAR als letzte Entscheidungsinstanz, bevor es zu einem möglichen On-Field-Review kommt, mehrere Möglichkeiten hat, eine Fehlentscheidung zu korrigieren. Früher hat man gesagt, ein:e Schiedsrichter:in hat nur zwei Augen, nun hat der VAR aber acht bis zehn Kameras, um verschiedene Zeitlupen zu checken.
Die Akzeptanz von Fehlern eines VAR ist nicht vorhanden, was dich automatisch unter Druck setzt. Man darf jedoch nicht vergessen, dass ein VAR auch nur ein Mensch ist, der eine Situation anders verstehen oder interpretieren kann. Unser VAR-Manager György Ring hat genau deshalb die Aufgabe, die besten Akteure zu finden. Wir brauchen keinen VAR-Kader, der aus 20 Personen mit 20 verschiedenen Interpretationen besteht. Ziel muss es sein, maximal zehn bis zwölf Personen einzusetzen, die einheitlich arbeiten. Denn das ist die Basis für den Erfolg. Deswegen haben wir den Kader in unserer ersten Saison ausgedünnt. 

Zudem hast du keine Garantie, dass ein:e gute:r Schiedsrichter:in automatisch ein guter VAR ist. Denn die Anforderungen und Eigenschaften als Schiedsrichter:in und als VAR decken sich kaum. Die Tätigkeit als VAR ist ein analytischer Job, während ein:e Schiedsrichter:in am Spielfeld Managementfähigkeiten haben, ein:e Psycholog:in sein und eine gute Fitness mitbringen muss. Als VAR musst du eine Szene wie einen möglichen Strafstoß realisieren und dann binnen kürzester Zeit richtig analysieren. Ich bin mir sicher, dass es in einigen Jahren getrennte Wege geben wird, weil jede Tätigkeit andere Eigenschaften und Stärken benötigt.

Blicken wir auf das internationale Geschäft. Die FIFA-Referees durften 2023/24 einige Erfolge feiern. Dazu zählen unter anderem die UEFA Europa League-Debüts von Julian Weinberger und Christian-Petru Ciochirca, der zudem ein UEFA Youth League-Halbfinale leiten durfte und der Halbfinaleinsatz in der UEFA Women’s Champions League von Amina Gutschi. Wie sieht deine Einschätzung zu den Leistungen auf internationaler Ebene aus?
Unsere FIFA-Schiedsrichter:innen und FIFA-Assistent:innen haben schöne Erfolge gefeiert, in meinen Augen müssen wir uns aber auf unsere langfristigen Ziele fokussieren. Wir sind leider weit weg von jenem Punk, an dem das österreichische Schiedsrichterwesen vor 20, 30, 40 Jahren war. Als Kind durfte ich österreichische Schiedsrichter bei ihren EM- und WM-Einsätzen bestaunen. Wir müssen auf diesen Weg zurückfinden. Wenn ich mir die Leistungen von unseren Leuten ansehe, bin ich zu 100 Prozent davon überzeugt, dass wir im europäischen Vergleich gut mithalten können. Ich besuche viele Spiele in ganz Europa. Unsere österreichischen FIFA-Schiedsrichter können die Leistungen, die Top-Referees in Europa bringen, auch zeigen. 
Unser Job ist es, unsere Leute zu unterstützen und sie noch besser zu machen. Deswegen haben wir in unserer ersten Saison auch Trios geformt. Sebastian Gishamer, Julian Weinberger, Christian-Petru Ciochirca und ab der neuen Saison auch Stefan Ebner haben fixe Assistenten, mit denen sie zu internationalen Spielen fahren. Auch auf nationaler Ebene wird dies in 70 bis 80 Prozent der Einsätze forciert. Dadurch wächst der Zusammenhalt im Team und das Teamwork funktioniert immer besser. Man muss sich ein Schiedsrichterteam wie eine Mannschaft vorstellen, die mit jedem gemeinsamen Einsatz eingespielter wird. Diese Teams werden auch zu Top-Spielen in Österreich und internationalen Freundschaftsspielen besetzt, um Erfahrung zu sammeln und sich als Team zu entwickeln.
Im nächsten Schritt ist es dann wichtig, dass die FIFA-Schiedsrichter international gute Leistungen bringen. Wenn du der beste Schiedsrichter in Österreich ist, aber international nicht performst, wirst du von der UEFA nicht mit dem Aufstieg in die nächsthöchste Kategorie belohnt. Garantie gibt es aber auch mit guten Leistungen keine, da 55 Länder dasselbe Ziel verfolgen: Alle wollen Schiedsrichter in der UEFA Champions League, bei der nächsten EURO und der nächsten WM haben. Der Wettkampf ist groß, dennoch müssen wir uns mit guten Leistungen ins Rampenlicht pfeifen, damit die UEFA realisiert, unsere Schiedsrichter sind sehr gut.

Im Frauenbereich ist sehr schön zu sehen, wie schnell Amina Gutschi als FIFA-Assistentin aufgestiegen ist und die Chancen bekommt, bei Top-Spielen zu amtieren. Dennoch ist es unsere Aufgabe, noch mehr Schiedsrichterinnen zu finden, die es auf die FIFA-Liste schaffen. Wir brauchen gerade für Amina eine Top-Schiedsrichterin auf demselben Level. Deswegen hat Andreas Rothmann, der Leiter Frauen-Schiedsrichterwesen, die schöne Aufgabe, in den nächsten Jahren Top-FIFA-Schiedsrichterinnen zu formen. Um einen Pool an Top-FIFA-Schiedsrichterinnen zu generieren, müssen die bestehenden Schiedsrichterinnen ständig geschult und gecoacht und gleichzeitig junge Talente gewonnen und ausgebildet werden. Wichtig zu erwähnen sind hier auch unsere internationalen Beobachter, die in der Saison 2023/24 beeindruckende Erfolge gefeiert haben. Stefan Meßner war beispielsweise als Beobachter im Hinspiel des UEFA Europa League-Halbfinalspiels zwischen AS Roma und Bayer Leverkusen im Einsatz, welches von François Letexier, dem Finalschiedsrichter der UEFA EURO 2024, geleitet wurde. Robert Schörgenhofer ist als internationaler Mentor tätig und Konrad Plautz fährt als Beobachter zur UEFA U19-EURO nach Nordirland. Unsere UEFA-Beobachter bekommen gute Besetzungen und genießen ein hohes Ansehen im internationalen Bereich.

Man hat anhand der Spiele, welche die Schiedsrichter gegen Ende der Saison bekommen haben, das Gefühl, dass sich das internationale Standing des österreichischen Schiedsrichterwesens verbessert hat. Wie siehst du das und welche Rolle spielst du dabei?
Natürlich wissen die Schiedsrichter:innen und Verbände aus allen Ländern Europas, dass Viktor Kassai nun in Österreich ist. Ich pfeife aber keine Spiele mehr. Ich kann helfen und viel bewegen, aber ich kann nicht am Platz stehen und die erforderlichen Leistungen bringen. Das müssen unsere FIFA-Schiedsrichter machen. Im Austausch mit der UEFA und den europäischen Verbänden höre ich regelmäßig, dass man sieht, in Österreich bewegt sich etwas. Darauf müssen wir aufbauen, um in einigen Jahren eine Rolle im internationalen Schiedsrichterwesen zu spielen.